Interview mit einem Dreihundertjährigen

Kreuzweingarten. Ist man noch jung, nimmt man es sehr wichtig mit der Altersangabe, und bei Frauen verschiebt sie sich eher nach unten als nach oben. Geht man aber an die hundert Jährchen heran, ist jedes Jahr zuviel oder zuwenig von großer Bedeutung, beim hundertsten selber gratuliert die (KR), der Rundfunk und die ganze Prominenz des Kreises. Ist man aber schon etliche hundert Jahre alt wie das schöne Fachwerkhaus in Kreuzweingarten, dann verträumt man seine alten Tage, und es kommt auch nicht so genau darauf an, ob noch einige Jährchen am Jubiläum fehlen, man rechnet ohnedies schon zu den Dreihundertjährigen. Wer es nicht glauben sollte, der braucht nur über die Tür zu schauen, da steht umrahmt von zwei Kränzen die Zahl 1659. Diese Zahl schaut auf den Betrachter herab mit der Ueberlegenheit eines Alters, das beinahe schon zu entrückt ist, um noch verständlich zu sein. Manchmal, wenn man vor dem alten Haus steht und genau hinhorcht, vernimmt man, wie es mit sich selber spricht, wie alte Leute das gerne tun. Ist man dann hübsch höflich, kann man es nicht selten sogar zu einem Gespräch bewegen.

Neulich sagte ich: „Man sieht Dir Deine 300 Jährchen gar nicht an, altes Haus!“ Es ächzte und knarrte mit seinen Eichenbalken. „Wer kümmert sich heute schon um die Alten? Meine Vorderfront steht unter Denkmalschutz, dringende Reparaturen sind notwendig und der Ortsvorsteher Gebertz, dem ich nun gehöre, ist in großer Sorge, weil die maßgeblichen Stellen sich gar nicht mehr um meine Instandhaltung bemühen. Aber wenn ich an meine Jugendzeit denke, es war kurz nach dem Dreißigjährigen Krieg, da sah es auch schlimm aus in deutschen Landen.“ Es seufzte wieder und fiel in Schweigen. Aus dem Haus drang Singen einer Frauenstimme. „Ja, lustig war man immer in Kreuzweingarten,“ hub das alte Haus wieder an, „wenn ich an die Zeiten denke, als hier noch Weinstöcke am Hang standen. Vor vielen hundert Jahren, als Weingarten als Lehen der Abtei Prüm den Stiftsherren von Münstereifel gehörte, hieß es schon in einer alten Chronik: ,In Wingarden befinden sich zehn Anwesen. Es befinden sich daselbst ein Weingarten zu neun Fuder, ...' Doch hatte bei uns der Weinbau nicht immer die gleiche Bedeutung. Schon zu meiner Zeit verdrängten Obstbäume, Beerensträucher und Kartoffeln allmählich den Rebstock, und als ich dann 150 Jahre alt war, da gab es schon in Kreuzweingarten auffallend viele Schnapsbrennereien. Na ja, die Kartoffel hatte halt die Rebe besiegt.“


Ein Dreijähriger vor dem 300 Jahre alten Fachwerkhaus in Kreuzweingarten. Foto: Vieth

Da läutete es von der Kirche den Feierabend ein. „Horch,“ flüsterte das alte Haus, „das ist die Kreuzglocke, sie ist nochmal so alt wie ich und die zweitälteste Glocke im ganzen linksrheinischen Kölner Gebiet. Doch unser beider Alter zusammen bedeutet ein Nichts gegen die Zeugen der vorrömischen und römischen Zeit in Kreuzweingarten, wie die Reste der römischen Wasserleitung aus der Eifel nach der alten Colonia Agrippina, die die großzügigste aller Trinkwasserleitungen Europas war. Und geht man gleich hier um die Ecke herum, steht man gegenüber der Schule auf dem Gelände einer römischen Prunkvilla, die eine Front von 60 Metern besaß. Ich bin zwar keine Prunkvilla und bin auf meine paar Meter Vorderfront trotzdem stolz!“

Es ächzte wieder und strahlte mich mit seinem gelben Briefkasten an, denn seit dreißig Jahren beherbergt es auch die Poststelle und dazu seit etlichen Jahren ein Lebensmittelgeschäft, in dem es herrlich nach Spezereien duftet.

Das liebe, gute Haus, wieviel Kinder hatten schon in seinen Mauern das Licht der Welt erblickt, wie oft hatte man schon einen Toten über seine Türschwelle getragen? Manches Lachen und Schluchzen hat es vernommen und alle Kriege überdauert. Vielleicht steht es noch, wenn wir schon lange nicht mehr sind. Und deshalb flüsterte es mir wohl auch zum Abschied u: „Nehmt Euch nicht so wichtig, Ihr dummen Menschen“ Nicht Euer Leben allein ist bedeutend und bestimmt das Weltgeschehen. Wesentlich ist nur das andere: Gott und das von Euch Geschaffene, sofern es die Jahrhunderte zu überdauern vermag.“

R.S.

Artikel-Sammlung Heinrich Veith Kreuzweingarten
Quelle:Kölnische Rundschau (?) 1959 *)

*) Anmerkung: Leider fehlen bei manchen Artikeln der Sammlung Heinrich Veith oftmals Quellenangabe und Erscheinungsdatum.
Die fehlenden Werte wurden so gut es ging, nachgearbeitet.
Für Irrtümer wird auf eine spätere Nachbesserung verwiesen; ggf. um Korrekturangaben gebeten.

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