- Wieder habe ich mich durch
dichtes Buschwerk den schmalen Weg hinaufgetastet, und bin nun
oben an der Aussichtsstelle zu Füßen des Kreuzes.
Ernst ragt es in den blauen Himmel hinein, das weithin sichtbare
Wahrzeichen dieses wahrlich von Gott gesegneten Ländchens.
In entzückender Anmut breitet es sich zu meinen Füßen
aus: baumgekrönte Höhen und ginsterbewachsene Hänge,
Wiesen und Felder, die schwer sind von der Fülle der
reifenden Frucht. Einem glitzernden Band gleich, zieht sich die
Erft durch den stillen, blumenreichen Grund, streicht
schmeichelnd um die Äcker, als wollte sie das Unrecht
vergessen lassen, das sie ihnen durch die Überschwemmung
angetan hat. Ja, sie versteht ihr Schelmenspiel. Die Grashalme
nicken ihr zu und die braunen Schollen buhlen schwerfällig
um die junge landes Maid, die unbekümmert um das Gewisper
und Geflüster, hinwegeilt zu der fernen Ebene, wo die
Schlote ihren Rauch zum Himmel senden und die Menschen harter
Hände Werk tun müssen. Mein Blick ist dieser Richtung
gefolgt; da liegt sie, die emsige Stadt, aus der ich kam. Ihre
Türme zeichnen sich am Blau des Horizontes ab. Unwillig
wende ich mich hinweg: fort mit dem Straßenstaub, dem Ruß
er Fabriken und Werkräume. Hier oben weht Gottes freie Luft
um mich; unten bettet sich das Dörfchen behaglich ins Grün.
Wie glänzen seine Dächer im Sonnenlicht, wie Schmuck
leuchten die Kleinen Fenster, wie blüht es in den Gärten,
wie ehrwürdig erhebt sich an der Biegung der Dorfstraße
der alte, spitzgiebelige Turm und das eng an ihn gelehnte, hohe
Schiff des Kirchleins! Unwillkürlich trete ich im Geist
hinein, lasse mich aufnehmen von dem kürzlich geweiteten
Bogen des Gotteshauses, schreite vor und knie links vor dem Altar
der Maienkönigin, der mit lustigen kleinen Blumensträußen
besteckt ist. Hier bist du, Reine im unversehrten Frieden deines
Herzens, umhegt von der Stille der Natur; hier bist du in deinem
wahren Reich, in deinem Garten der Eintracht und
Zurückgezogenheit, du österliche Frau, die du nur noch
in der Erinnerung lebst an dein vergangenes Weh und ein
vergangenes Mutterglück, denn dein Sohn ist nicht mehr bei
dir. Du aber bist deshalb um so mehr für uns da, und je
stiller ein Land ist, um so deutlicher sprichst du deinen Frieden
in unser Herz hinein.
-
- So geschah auch mir - und ich
erhob mich, trat durch die Pforte der Kirche auf den Friedhof,
der in hügeligem Anstieg sich hinaufzieht bis zu der
Kriegergedächtniskapelle, vor der ich sinnend stehe und die
hochaufgerichtete Christusgestalt betrachte, die, mit
ausgebreiteten Armen, den Blick zum Himmel gewandt, aus Grab und
Tod emporsteigt und die Seinen mit sich hinaufziehen will in den
ewigen Ruhm. Ergreifend ist der Anblick dieses eigenartigen, ja
kühnen, vielumstrittenen Gemäldes. Rechts und links in
den Nischen sieht man die ausziehenden Krieger, die
zurückbleibenden Mütter und mit gefaßtem Antlitz,
die gefalteten Kinderhändchen und die leidgeprüften,
verflossenen Züge der Greise, die Gottes Willen in seiner
Unabwendbarkeit schon oft an sich erfahren haben und nun auch
dieses Neue, ganz Unbegreifliche zu tragen suchen.
-
- "Damit wir glorreich
einst sie wiedersehn,
-
Wenn alles Fleisch wird
auferstehn",
-
- bete ich mit ihnen und denke
der Toten, die auch mir einst nahegestanden. Dann wandle ich
nachdenklich zwischen den Kreuzen, die hier nicht starr und
metallen sind wie auf anderen Friedhöfen, sondern aus
blankem, braunen Holz geschnitzt, nach Art der Süddeutschen
überdacht und mit vielfältiger, im Sonnenlicht köstlich
schimmernder Malerei verziert sind. Da begreife ich, daß
der Tod der Christen nicht die Nacht ist, sondern das Leben,da
löst sich alle Schwere, die uns sonst am Ort der
Abgeschiedenen überfällt, da ist es mir, als klänge
fast ein Lächeln aus der Heiterkeit der Farben und den
pausbäckigen Engelsköpfchen zu mir her, die hier und da
aus den Kreuzen sich hervorstrecken. Und sieh, schon flüstert's
aus dem Gewirr der Buchstaben; es ist wie eines feinen
Altmeisters Stimme:
-
- Küster war ich 31 Jahr,
-
Die Totenkerzen am Altar
-
Steckte ich manchem auf.
-
Zu Ende ging nun auch mein Lauf.
-
Da zünde, Lieber, du
-
Mir ein Gebetskerzlein zur Ruh".
-
- Und weiter klingt's. Diesmal
ist's eine einundzwanzigjährige Lehrerin, die aus ihrem
jungfräulichen Grabe zu mir spricht und nicht nur für
sich, sondern auch für den im Weltkrieg gefallenen Bruder
ein Gebetlein erfleht:
-
- "Voll Zuversicht, mein
Chist, befehl
-
In dein Gebet ich meine Seel'
-
Und bitt: auch wollest schließen
ein
-
Den lieben Bruder Heinrich mein,
-
Der für das treue Vaterland
-
Den Tod in Frankreichs Erde
fand".
-
- Mit einem Ave gedenke ich der
beiden, und noch andere Kreuze strecken ihre bittenden Arme aus
und rufen die Vorübergehenden an. Wie nah sind sich hier die
Lebenden und die Toten! Hier spürt man wirklich etwas vom
Geist der Gemeinschaft der Heiligen, der kämpfenden,
leidenden und triumphierenden Kirche. Hier scharen sich alle um
das heilige Opfer, das jeden Tag in ihrer unmittelbaren Nähe
dargebracht wird, das sie alle eint, das Vergangenheit und
Zukunft in die ewige Gegenwart des gekreuzigten Heilandes
zusammenbindet.
-
- Unmerklich bin ich über
den ganzen Friedhof gewandert und steige nun den schmalen Hang
zum Dorf hernieder, wo Kinder auf der Landstraße spielen.
Leben! Freudigkeit! Ich bin wieder im pulsenden Atem des
Augenblicks. Auch hier weiß man um Zeitwende, um neue Ziele
und Aufgaben. Da steht noch an der Biegung des Weges, der aus dem
Dorf hinaus nach Münstereifel zu führt, das Jugendheim.
Ich erkenne die Bestimmung dieses Hauses an dem kurzen Spruch,
der aus der Verglasung der beiden Ochsenaugen am Straßengiebel
herausleuchtet:
-
- "Der Jugend zum Segen,
der Pfarre zum Zier"
-
- und ich wundere mich, daß
man es fertig brachte, in sturmbewegter Zeit ein solches Heim zu
errichten, denn stolz prangt es über der Eingangspforte:
-
- "In schwerer Zeit war
ich erbaut,
-
Den Weltkrieg habe ich geschaut,
-
Gott segne, die mir anvertraut:
-
Zu Ihm, o Jugend, aufgeschaut".
-
- Im Innern überrascht
mich wieder wie auf dem Friedhof die Farbenfreudigkeit der
Verzierung; die Bühne zwar stellt die grellen Kulissen in
die nüchterne Morgenbeleuchtung, und Turngeräte stehen
verlassen umher. Aber ich sehe im Geist diesen fröhlichen
Raum von einem munteren Völkchen belebt, gefüllt mit
der Schar der jetzt allenthalben so ernsthaft um ihr reifendes
Leben Ringenden. da wird der Körper gestählt und alle
Zagheit abgetan, da übt man sich im dramatischen Spiel, in
Tanz und Gesang, oder man lauscht den ernsten Worten eines
Redners, der Kraft und Segen in die jungen Herzen gießt.
Befriedigt verlasse ich den von soviel Leben zeugenden Ort,
durchstreife noch einmal das Dorf, luge hier und da in eins der
Häuser, wo ich durchaus nicht den sogenannten bäurischen
Geschmack finde, sondern Sinn für edle Formen, für
Einfachheit und Echtheit des Stoffes. Sind es auch keine
kostbaren Zinnteller, kunstgeschichtlich bedeutsame Truhen und
vergessene Schmuckstücke der Altvorderen, so ist es doch
dementsprechendes, neues Gut der Zeit: ein kernfest gebauter
Schrank, ein buntgestrichener Tisch, oder sonst ein in schönem
Maß erdachtes Gerät. Und stolz blicken die Inhaber auf
ihre Schätze, sie wissen, was gut gebildet, fein und
schlicht ist. Der Sinn für das Echte und Schöne ist
ihnen aufgegangen. Verrieten es nicht schon der Kirchhof, der
Schmuck des Gotteshauses. Das Jugendheim? Da mag ein guter Geist
des Ortes, ein genius loci, wie die Alten sagten, walten. Wer es
sein mag?
-
- Ein Vogelstimmchen will's mir
grade zuflüstern. Da merke ich wieder, wo ich bin. Der
plötzlich aufsteigende Wind faßt mein Kleid; ich hatte
ganz vergessen, daß mein Weg durch das Dörflein sich
nur im Geist vollzog, daß ich in Wirklichkeit einige
siebzig Meter über all dem stehe. Wer wird's mir da
verargen, wenn meine Einbildungskraft nicht stark genug war, um
jedes einzelne wiederzugeben, was unten, aus unmittelbarer Nähe
sich noch kräftiger, greifbarer ausgenommen hätte?
Sieh, da schimmern, kleinen Punkten gleich, die Kreuze, die
Grabkapelle hebt sich leuchtend heraus, ein Menschlein geht
sinnend die Hügel entlang. Ich werfe noch einen Blick auf
das liebliche Bild, das Dorf und den glitzernden Fluß un
wende mich zum Gehen. Zu meinen Füßen raschelt das
Laub, dichtes Buschwerk schließt sich hinter mir; da öffnet
sich der Pfad, und vor mir liegt eine ganze Märchenherrlichkeit,
das Waldschloß mit seinem wahrhaft verführerischen
Blumenzauber, der sich über die Wege hinstreut in glühender,
verschwenderischer Farbenpracht. Kling(f)sohrs, des Gefährlichen,
Zauberschloß muß so gewesen sein; aber hier ist's ein
Zauberer, der das Gute schafft, ein heimlich Wirkender, ein echt
genius loci, dessen gastlichen Räumen ich mich nun zuwende.
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