Kreuz=Weingarten

Ein Stimmungsbild

Von Dr. Annie Bender


Wieder habe ich mich durch dichtes Buschwerk den schmalen Weg hinaufgetastet, und bin nun oben an der Aussichtsstelle zu Füßen des Kreuzes. Ernst ragt es in den blauen Himmel hinein, das weithin sichtbare Wahrzeichen dieses wahrlich von Gott gesegneten Ländchens. In entzückender Anmut breitet es sich zu meinen Füßen aus: baumgekrönte Höhen und ginsterbewachsene Hänge, Wiesen und Felder, die schwer sind von der Fülle der reifenden Frucht. Einem glitzernden Band gleich, zieht sich die Erft durch den stillen, blumenreichen Grund, streicht schmeichelnd um die Äcker, als wollte sie das Unrecht vergessen lassen, das sie ihnen durch die Überschwemmung angetan hat. Ja, sie versteht ihr Schelmenspiel. Die Grashalme nicken ihr zu und die braunen Schollen buhlen schwerfällig um die junge landes Maid, die unbekümmert um das Gewisper und Geflüster, hinwegeilt zu der fernen Ebene, wo die Schlote ihren Rauch zum Himmel senden und die Menschen harter Hände Werk tun müssen. Mein Blick ist dieser Richtung gefolgt; da liegt sie, die emsige Stadt, aus der ich kam. Ihre Türme zeichnen sich am Blau des Horizontes ab. Unwillig wende ich mich hinweg: fort mit dem Straßenstaub, dem Ruß er Fabriken und Werkräume. Hier oben weht Gottes freie Luft um mich; unten bettet sich das Dörfchen behaglich ins Grün. Wie glänzen seine Dächer im Sonnenlicht, wie Schmuck leuchten die Kleinen Fenster, wie blüht es in den Gärten, wie ehrwürdig erhebt sich an der Biegung der Dorfstraße der alte, spitzgiebelige Turm und das eng an ihn gelehnte, hohe Schiff des Kirchleins! Unwillkürlich trete ich im Geist hinein, lasse mich aufnehmen von dem kürzlich geweiteten Bogen des Gotteshauses, schreite vor und knie links vor dem Altar der Maienkönigin, der mit lustigen kleinen Blumensträußen besteckt ist. Hier bist du, Reine im unversehrten Frieden deines Herzens, umhegt von der Stille der Natur; hier bist du in deinem wahren Reich, in deinem Garten der Eintracht und Zurückgezogenheit, du österliche Frau, die du nur noch in der Erinnerung lebst an dein vergangenes Weh und ein vergangenes Mutterglück, denn dein Sohn ist nicht mehr bei dir. Du aber bist deshalb um so mehr für uns da, und je stiller ein Land ist, um so deutlicher sprichst du deinen Frieden in unser Herz hinein.

So geschah auch mir - und ich erhob mich, trat durch die Pforte der Kirche auf den Friedhof, der in hügeligem Anstieg sich hinaufzieht bis zu der Kriegergedächtniskapelle, vor der ich sinnend stehe und die hochaufgerichtete Christusgestalt betrachte, die, mit ausgebreiteten Armen, den Blick zum Himmel gewandt, aus Grab und Tod emporsteigt und die Seinen mit sich hinaufziehen will in den ewigen Ruhm. Ergreifend ist der Anblick dieses eigenartigen, ja kühnen, vielumstrittenen Gemäldes. Rechts und links in den Nischen sieht man die ausziehenden Krieger, die zurückbleibenden Mütter und mit gefaßtem Antlitz, die gefalteten Kinderhändchen und die leidgeprüften, verflossenen Züge der Greise, die Gottes Willen in seiner Unabwendbarkeit schon oft an sich erfahren haben und nun auch dieses Neue, ganz Unbegreifliche zu tragen suchen.

"Damit wir glorreich einst sie wiedersehn,
Wenn alles Fleisch wird auferstehn",

bete ich mit ihnen und denke der Toten, die auch mir einst nahegestanden. Dann wandle ich nachdenklich zwischen den Kreuzen, die hier nicht starr und metallen sind wie auf anderen Friedhöfen, sondern aus blankem, braunen Holz geschnitzt, nach Art der Süddeutschen überdacht und mit vielfältiger, im Sonnenlicht köstlich schimmernder Malerei verziert sind. Da begreife ich, daß der Tod der Christen nicht die Nacht ist, sondern das Leben,da löst sich alle Schwere, die uns sonst am Ort der Abgeschiedenen überfällt, da ist es mir, als klänge fast ein Lächeln aus der Heiterkeit der Farben und den pausbäckigen Engelsköpfchen zu mir her, die hier und da aus den Kreuzen sich hervorstrecken. Und sieh, schon flüstert's aus dem Gewirr der Buchstaben; es ist wie eines feinen Altmeisters Stimme:

Küster war ich 31 Jahr,
Die Totenkerzen am Altar
Steckte ich manchem auf.
Zu Ende ging nun auch mein Lauf.
Da zünde, Lieber, du
Mir ein Gebetskerzlein zur Ruh".

Und weiter klingt's. Diesmal ist's eine einundzwanzigjährige Lehrerin, die aus ihrem jungfräulichen Grabe zu mir spricht und nicht nur für sich, sondern auch für den im Weltkrieg gefallenen Bruder ein Gebetlein erfleht:

"Voll Zuversicht, mein Chist, befehl
In dein Gebet ich meine Seel'
Und bitt: auch wollest schließen ein
Den lieben Bruder Heinrich mein,
Der für das treue Vaterland
Den Tod in Frankreichs Erde fand".

Mit einem Ave gedenke ich der beiden, und noch andere Kreuze strecken ihre bittenden Arme aus und rufen die Vorübergehenden an. Wie nah sind sich hier die Lebenden und die Toten! Hier spürt man wirklich etwas vom Geist der Gemeinschaft der Heiligen, der kämpfenden, leidenden und triumphierenden Kirche. Hier scharen sich alle um das heilige Opfer, das jeden Tag in ihrer unmittelbaren Nähe dargebracht wird, das sie alle eint, das Vergangenheit und Zukunft in die ewige Gegenwart des gekreuzigten Heilandes zusammenbindet.

Unmerklich bin ich über den ganzen Friedhof gewandert und steige nun den schmalen Hang zum Dorf hernieder, wo Kinder auf der Landstraße spielen. Leben! Freudigkeit! Ich bin wieder im pulsenden Atem des Augenblicks. Auch hier weiß man um Zeitwende, um neue Ziele und Aufgaben. Da steht noch an der Biegung des Weges, der aus dem Dorf hinaus nach Münstereifel zu führt, das Jugendheim. Ich erkenne die Bestimmung dieses Hauses an dem kurzen Spruch, der aus der Verglasung der beiden Ochsenaugen am Straßengiebel herausleuchtet:

"Der Jugend zum Segen, der Pfarre zum Zier"

und ich wundere mich, daß man es fertig brachte, in sturmbewegter Zeit ein solches Heim zu errichten, denn stolz prangt es über der Eingangspforte:

"In schwerer Zeit war ich erbaut,
Den Weltkrieg habe ich geschaut,
Gott segne, die mir anvertraut:
Zu Ihm, o Jugend, aufgeschaut".

Im Innern überrascht mich wieder wie auf dem Friedhof die Farbenfreudigkeit der Verzierung; die Bühne zwar stellt die grellen Kulissen in die nüchterne Morgenbeleuchtung, und Turngeräte stehen verlassen umher. Aber ich sehe im Geist diesen fröhlichen Raum von einem munteren Völkchen belebt, gefüllt mit der Schar der jetzt allenthalben so ernsthaft um ihr reifendes Leben Ringenden. da wird der Körper gestählt und alle Zagheit abgetan, da übt man sich im dramatischen Spiel, in Tanz und Gesang, oder man lauscht den ernsten Worten eines Redners, der Kraft und Segen in die jungen Herzen gießt. Befriedigt verlasse ich den von soviel Leben zeugenden Ort, durchstreife noch einmal das Dorf, luge hier und da in eins der Häuser, wo ich durchaus nicht den sogenannten bäurischen Geschmack finde, sondern Sinn für edle Formen, für Einfachheit und Echtheit des Stoffes. Sind es auch keine kostbaren Zinnteller, kunstgeschichtlich bedeutsame Truhen und vergessene Schmuckstücke der Altvorderen, so ist es doch dementsprechendes, neues Gut der Zeit: ein kernfest gebauter Schrank, ein buntgestrichener Tisch, oder sonst ein in schönem Maß erdachtes Gerät. Und stolz blicken die Inhaber auf ihre Schätze, sie wissen, was gut gebildet, fein und schlicht ist. Der Sinn für das Echte und Schöne ist ihnen aufgegangen. Verrieten es nicht schon der Kirchhof, der Schmuck des Gotteshauses. Das Jugendheim? Da mag ein guter Geist des Ortes, ein genius loci, wie die Alten sagten, walten. Wer es sein mag?

Ein Vogelstimmchen will's mir grade zuflüstern. Da merke ich wieder, wo ich bin. Der plötzlich aufsteigende Wind faßt mein Kleid; ich hatte ganz vergessen, daß mein Weg durch das Dörflein sich nur im Geist vollzog, daß ich in Wirklichkeit einige siebzig Meter über all dem stehe. Wer wird's mir da verargen, wenn meine Einbildungskraft nicht stark genug war, um jedes einzelne wiederzugeben, was unten, aus unmittelbarer Nähe sich noch kräftiger, greifbarer ausgenommen hätte? Sieh, da schimmern, kleinen Punkten gleich, die Kreuze, die Grabkapelle hebt sich leuchtend heraus, ein Menschlein geht sinnend die Hügel entlang. Ich werfe noch einen Blick auf das liebliche Bild, das Dorf und den glitzernden Fluß un wende mich zum Gehen. Zu meinen Füßen raschelt das Laub, dichtes Buschwerk schließt sich hinter mir; da öffnet sich der Pfad, und vor mir liegt eine ganze Märchenherrlichkeit, das Waldschloß mit seinem wahrhaft verführerischen Blumenzauber, der sich über die Wege hinstreut in glühender, verschwenderischer Farbenpracht. Kling(f)sohrs, des Gefährlichen, Zauberschloß muß so gewesen sein; aber hier ist's ein Zauberer, der das Gute schafft, ein heimlich Wirkender, ein echt genius loci, dessen gastlichen Räumen ich mich nun zuwende.



Bilder, Erinnerungen 50er und 60er Jahre ©
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Das Dorfbuch Kreuzweingarten - Rheder

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